Mein Coming Out als Transfrau

Veröffentlicht am 8. April 2024 um 15:45

Wie es war 35 Jahre den Kerl zu spielen der ich niemals war

Coming Out Transfrau

35 Jahre meines Lebens habe ich eine männliche Rolle gespielt, einen Familienvater, eine Person, die ich innerlich niemals war. Jeden Tag aufs neue habe ich mich vor meiner Familie, meinen Partnerinnen, meinen Kindern, meinen Arbeitskolleg:innen und generell JEDEM Menschen verstellt. Es ist so als wenn man sich eine Maske aufsetzten würde, die man nie wieder abnimmt. 

Ich war bis zu diesem Zeitpunkt nie ich selbst. ich konnte nicht aus mir heraus, nicht meine wahren Gefühle und meine Begeisterung für bestimmte Dinge zeigen. Ich hatte Angst!

Ich hatte Angst mein wahres ICH preis zu geben. Ich dachte ich könnte ja für einen femininen Kerl oder gar für Schwul gehalten werden, wenn ich mich der Welt zeige wie ich wirklich bin. Zeigen das ich Schmetterlinge, pinke Farben, Babys, Tierkinder, Schmuck, feminine Kleidung, Schuhe, Handtaschen und was weiß ich nicht alles mag. Ich denke es war die Angst von der Gesellschaft nicht akzeptiert zu werden, da ich diese Inakzeptanz bereits in meiner Schulzeit zu genüge erfahren musste. Wohl hatte ich auch Angst meinen gesellschaftlichen Status zu verlieren. Denn meine letzten "männlichen Jahre!", genoss ich beruflich sehr hohes Ansehen und hatte stets führende Positionen. 

Ich hatte stets viel zu verlieren. Oftmals spielte ich meine männliche Rolle so gut, das ich manche Lebensjahre komplett verdrängt habe wer ich wirklich bin: "Ich bin Anna, nur eine gewöhnliche Frau". Nur wusste ich dies oft nicht und wunderte mich nur warum ich ständig so traurig und unzufrieden war. Außerdem war ich stets müde. Es kostete mich mein Leben lang sehr viel Kraft meine zugewiesene Geschlechterrolle zu spielen und die Fassade aufrecht zu erhalten. Es schmerzte sehr, nie ich, die Anna sein zu können. Irgendwann hielt das meine Psyche nicht mehr aus. Zum Selbstschutz wurde ich Meisterin der Verdrängung. Bis heute habe ich keinen Zugang zu den Erinnerungen meiner Vergangenheit aus dem Erwachsenenalter.

Der Absturz - Zwischen Verdrängung und Depressionen

Depressionen Transsexualität

Doch irgendwann hatte auch das Verdrängen keinen Erfolg mehr. Mir ging es ab dem Alter von 30 Jahren psychisch immer schlechter, ich litt unter immer stärker werdenden Depressionen. Ich zog mich immer mehr zurück und versank in mir selbst. Ich war nur noch eine leere Hülle, wusste nicht mehr vor noch zurück. Daher flüchtete ich mich in die Arbeit und gründete ein Online-Unternehmen, indem ich Tierbedarf verkaufte. Es war ein florierendes Start-Up Unternehmen mit 3-Mitarbeiterinnen die für mich die Waren verpackten. Im Bereich Fischfutter war ich lange Zeit auf Ebay Marktführerin. Zunächst klappte die Ablenkung mit tägliche 18h Arbeit sehr gut. Doch dann schlugen die Depressionen wieder zurück. Nach 3 Jahren Selbstständigkeit war nicht mehr in der Lage das Unternehmen weiter zu führen. Ich war völlig erschöpft, ausgelaugt und motivationslos. 

In dieser Zeit wurde es mir jedoch immer wieder und immer häufiger bewusst das ich kein Mann bin und auch nie so Leben wollte. Ich googelte immer häufiger zu dem Thema Transsexualität und beschäftigte mich sehr intensiv damit. Ich bewunderte andere Transfrauen wie schön sie Teils aussahen und fragte mich wie sie es geschafft haben ihren Weg zu gehen. Ich selbst konnte doch nicht. Ich wollte nicht alles verlieren was ich mir bisher erarbeitet hatte. Und so ging es auch die nächsten 2 Jahre weiter. Ich wechselte stets zwischen dem Verdrängen und dem Bewusstsein eine Frau zu sein.  In dieser Zeit ging auch die Beziehung zu meiner Freundin, mit der ich eine gemeinsame Tochter habe in die Brüche. Ich konnte ihr nicht mehr der Mann sein den sie sich wünschte. Genauso wenig schaffte ich es für sie zu Sorgen, denn das schaffte ich nicht einmal für mich. Sie fühlte sich vernachlässigt und suchte sich am Ende die Aufmerksamkeit bei jemanden anderen. 

Die Anna will endlich aus ihrem Gefängnis!

Beruflich wechselte ich nach Beendigung meiner Selbstständigkeit zur Industriereinigung. Ich reinigte nachts einen Schlachthof und entfernte sämtliches Blut und Fett von den Anlagen. Auch hier wurde ich wieder schnell zum "Vorarbeiter" ernannt. Und wieder spielte ich eine dominante, männliche Rolle und musste mich unter den Kollegen und meinen Vorgesetzten durchsetzen.

innerliches Gefängnis

Ich freute mich als mich nach einem Jahr meine ehemalige Buchhalterin anrief und mir wieder einen Job im Onlinehandel vermittelte. Ich glaubte das es für mich beruflich, psychisch und Privat wieder aufwärts gehen würde. Alles lief perfekt! Ich hatte auch wieder eine neue Partnerin gefunden, die bereits kurz nach dem kennen lernen mit Ihrem Sohn zu mir zog. 

Doch ab diesen Moment hielt es die Anna in ihrem innerlichen Gefängnis wohl nicht mehr aus. Sie fing an zu rebellieren und wollte raus! Immer wenn meine Frau und die Kinder außer Haus war, nutze ich die wenigen Momente wo ich alleine war für mich aus. Das erste was ich machte sobald alle außer Haus waren, war die Körperrasur. Ich hatte schon immer meine Körperbehaarung gehasst. Nur habe ich mich nie getraut mich in Anwesenheit von meiner Familie z.B. Arme und Beine zu rasieren. Und wenn ich es heimlich tat, versuchte ich die glatte Haut vor meiner Frau immer zu verbergen und zog mich vor Ihr nur noch im dunkeln aus. Ich schämte mich und wollte mich zu dem Zeitpunkt noch nicht so feminin zeigen.

Später zog ich mir auch heimlich die Kleidung meiner Frau an wenn ich alleine war. Ich fühlte mich darin einfach Pudelwohl. Es fühlte sich richtig an Kleidung zu tragen die ich wirklich mag. Irgendwann kaufte ich mir auch heimlich Unterwäsche, da ich die Boxershorts, die ich üblicherweise trug über alles hasste. Und dann gab es ein Ereignis welches alles in meinem Leben änderte. 

Der Blick im Spiegel - als ich das erste mal die Anna sah

Der Blick im Spiegel

Irgendwann bestellte ich mir bei Amazon eine Perücke.  Das dürfte im Januar 2022 gewesen sein. Als sie kam hatte meine Frau einen Termin und ich konnte sie in Ruhe aufsetzen und mich schick machen. Als ich dann geschminkt und mit Perücke in den Spiegel sah, passierte etwas ungewöhnliches. Ich sah in dem Spiegel das aller erste mal mich selbst. Die Anna, eine ganz normale Frau.

Es war so ein schönes Gefühl endlich die Person sehen zu können die ich schon immer war. Ich fühlte mich überglücklich. Endlich ich. Vorher mied ich Spiegel. Ich hasste sie regerecht, weil ich nie mich selbst, sondern immer nur einen hässlichen, fetten Kerl sah, der immer so traurig drein schaute. 

Von diesem Moment an war die Anna vollkommen in meinem Bewusstsein. Ich konnte sie nicht mehr verdrängen und kam so langsam aber sicher zu einem Punkt wo ich weder vor noch zurück konnte. Ich litt von diesem Moment an wieder unterstarken Depressionen. Von Januar bis März 2022 saß ich in meiner Freizeit hauptsächlich nur noch auf der Couch, grübelte und las Beiträge über Transsexualität. Ich überlegte ob ich mich nun outen sollte oder nicht. Ich dachte über Alternativen nach vielleicht irgendwie heimlich, als Frau leben zu können. Ich hatte schließlich wahnsinnige Angst alles zu verlieren: Meine Familie, meinen Job, Eltern, Freunde, mein Ansehen etc. Doch ich fand keine Möglichkeit heimlich im gefühlten Geschlecht leben zu können. Und es ist auch nicht meine Art meine Frau in dieser Hinsicht zu belügen und etwas hinter ihrem Rücken zu tun. 

Dann gingen meine Überlegungen weiter. ich wollte und konnte mich nicht mehr weiterhin verstellen. ich hatte keine Kraft mehr für diese Schauspielerei. So ging es definitiv keinesfalls weiter! Am Ende gab es für mich nur noch zwei Optionen. Ich stand an einer Weggabelung. Ich musste an diesem Punkt eine Entscheidung treffen. Eine die mein ganzes Leben entweder für immer vollkommen verändern oder beenden würde. Als Mann konnte ich nicht weiterleben. Ich hatte nur die Wahl entweder mein Leben zu beenden oder mich zu outen und es zumindest versuchen einfach ich selbst zu werden.

Ich dachte sehr stark und Intensiv über den Suizid nach. Ich sah ihn als Lösung für mein Problem. Wie schön wäre doch all den ganzen Schmerz und die Depression auf einen Schlag zu beenden? Doch was wäre dann mit meinem 3 Kindern und meiner Frau die ich zurück lassen würde? Ich selbst war mir vollkommen egal, da ich mein Leben so wie es war abgrundtief hasste. Aber kann ich das meinen Liebsten wirklich antun? Also entschied ich mich für das Outing und den Weg zu meinem wahren ICH. 

Viele Leute mit denen ich über meine Transition gesprochen haben meinten ich wäre unheimlich mutig, es durch zu ziehen und zu mir selbst zu stehen. Aber ich sehe es anders. Es war nicht der Mut der mich zum Coming Out veranlasste, sondern der Schmerz und pure Verzweiflung. Ich war einfach nur am Ende und konnte meinen bisherigen Weg nicht mehr weiter gehen. Er war eine nicht endende Sackgasse.

Das Outing vor meiner Frau

Outing Gespräch

Ich glaube ich habe mindestens 4 Wochen drüber nachgedacht wie ich dieses Gespräch führen soll. Wie beginnt man solch ein Gespräch? Wie erklärt man seine Gefühle oder überhaupt dieses ganze Empfinden das ich eine Frau bin? Trotz dieser Vorbereitungszeit gelang es mir nicht ihr gleich direkt zu sagen um was es beim Gespräch ging, worum ich sie gebeten hatte. Ich meinte nur das ich ihr was wichtiges sagen müsse. Und so fing sie an zu bohren und wir starteten sie eine Art Ja/Nein Befragung. Sie fragte mich ob es etwas mit ihr zu tun hätte oder ob ich unzufrieden mit unserer Beziehung sei? Und ich antwortete "Nein, es hat etwas mit mir zu tun." Und sie stellte mir die Frage worum geht es denn nun? Ich antwortete: "Ich traue mich einfach nicht dir das zu sagen, weil ich Angst habe dich deswegen zu verlieren." Dann fragte sie mich ob ich Schwul wäre?

Meine Antwort: "Nein, es ist etwas anderes...". Daraufhin überlegte sie einen Moment und sprach mir Mut zu. Sie meinte; "Sage es mir einfach, ganz egal was es ist, ich stehe zu dir, man kann über alles reden." Daraufhin: Stilles Schweigen. Es kostete mich sehr viel Mut es gerade heraus zu sagen. Mit Abstand war dies das schwierigste Gespräch meines Lebens. Dann antwortete ich ihr das ich mich in meinem Körper nicht wohl fühle und ihn hasse. Ab diesem Moment war ihr klar worauf ich hinaus wollte. 

Dann kam das Gespräch so langsam in die Gänge. Ich erzählte ihr was ich alles heimlich machte, ich erklärte ihr warum ich mich sooft komisch verhalte, nicht aus mir heraus komme, mich nur im dunkeln vor ihr ausziehe, warum ich mir nie Kleidung kaufen wollte, aber dafür unbedingt auf eine Männerhandtasche bestand. Und so kamen viele, viele Kleinigkeiten zur Sprache, welche sich mit meiner Transsexualität leicht erklären ließen.

Dieses Gespräch ging nicht nur einen Abend lang, sondern zog sich über eine ganze Woche. Jeden Abend redeten wir darüber in der Küche. Auch Themen wie unsere Sexualität kamen zur Sprache. Ich erklärte ihr warum für mich Sexualität generell immer sehr schwierig war. Denn auch im Bett spielte ich ja bisher immer die männliche Rolle, mit der ich mich absolut nicht identifizieren konnte. Sex fühlte sich für mich nie richtig an. 

Am Ende dieser Woche sagte sie mir dann das sie definitiv zu mir stehe, völlig egal ich jetzt Mann oder Frau wäre. Dann machte sie mir völlig unerwartet einen Heiratsantrag. Ich konnte mein Glück überhaupt nicht fassen. Ich finde einen besseren Zeitpunkt hätte es dafür gar nicht geben können. Für mich war dies der größte Liebesbeweis den sie mir jemals hätte machen können. Und 3 Monate später heirateten wir dann tatsächlich. Sie im roten und ich im pinken Kleid. Aber die Hochzeit ist wieder ein anderes Kapitel über welches ich später schreiben werde...

Meine Frau war die erste Person der ich mich damals anvertraute und mich outete. Natürlich gehören zu einem Coming Out noch viel mehr Outings. Zum Beispiel im Freundeskreis, bei der Familie und auf der Arbeit. Da ich hier jedoch nicht den Rahmen sprengen möchte, habe ich mich dazu entschieden an dieser Stelle einen Cut zu machen. 

Fortsetzung folgt... im nächsten Beitrag "Mein Coming Out als Transfrau - Teil 2"

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